Eine Blogparade: Worum geht’s denn da?
In „The Content Society“ (TCS) läuft gerade eine Blogparade. Kurz gesagt, stellen meine Blogger-Kollegen bestimmte Themen auf ihren Blog und laden ein, zu diesem Thema einen eigenen Beitrag zu schreiben. Mich hat Birgit Krügers Thema angesprochen, über Entscheidungen, die in meinem Leben etwas verändert haben, nachzudenken. Ich bin selbst gespannt, was hier entsteht. Ich weiß ja, welche Entscheidung es war, dennoch habe ich lange nicht dorthin zurück geschaut.
Das Waldorfleben – mein Zuhause
Es geht um eine Entscheidung, die – bewusst getroffen – mein Leben verändert hat. Und das war die Entscheidung, mit dem Waldorflehrerdasein aufzuhören. Das Waldorfleben war mein Zuhause, ja sogar eine Lebenshaltung. Ich hatte hier eine Arbeit und Aufgabe gefunden, in der ich alle meine Facetten einbringen konnte: Ich hatte Freude am Lernen und Handwerken, ich spielte Instrumente. Ich beschäftigte mich seit Jahren mit Anthroposophie. Mir war eigenverantwortliches und freies Arbeiten sehr wichtig und ich war dafür auch organisiert und strukturiert genug. Außerdem fand ich die Weise, wie die Anthroposophie auf den Menschen und hier speziell auf das Kind blickt, äußerst sinnstiftend und – sehr wichtig – alles durfte schön und ästhetisch und kreativ sein.
Da ich vier Kinder hatte, verwoben sich die Lebenswirklichkeiten Familie und Schule miteinander – und das war in Ordnung! Ich las eigentlich nur noch anthroposophische bzw. Bücher, die wichtig für meinen Unterricht waren. Mein soziales Umfeld bestand zum größten Teil aus Leuten, die mit der Schule zu tun hatten, wie Kollegen und anderen Eltern. Und ich nahm dadurch intensivsten Anteil am Schulleben meiner Kinder. Für mich war das nicht immer leicht, da ihre Lehrer meine Kollegen waren. Für meine Kinder hingegen war es im Großen und Ganzen in Ordnung. Wir hatten, bis auf wenige Vertretungsstunden in ihren Klassen, nur Berührungspunkte in den Pausen, wenn ich Hofaufsicht hatte. Wenn ausgerechnet ihre Mutter mit den Mitschülern Klartext redete, fanden meine Kinder das nicht lustig. Ich wusste, ich würde als Waldorflehrerin alt werden und wollte noch für meine Enkelchen eine aktive Waldorf-Großmutter sein.














Tiefe Gräben
Und dann kam „Corona“. Wenn wir zurückschauen, fühlen wir sicher wieder, wie belastend diese Jahre waren. Und diejenigen, die Schulkinder hatten, wissen dies mit Sicherheit. So überfordernd, wie das für Eltern war, war es auf der anderen Seite für die Lehrer. Die standen in der Verantwortung, gefühlt alles kompensieren zu müssen. „Corona“ entzweite die Menschen. Die Gräben durchzogen alle Schichten unserer Gesellschaft und damit auch das Kollegium, in dem ich arbeitete. Für mich waren das einschneidendste Erlebnisse.
Ich erlebte, dass es ein richtiges und ein falsches Denken gab und dass „falsch Denkende“ ausgegrenzt werden. Ich wünschte mir für die Schüler eine Vorbildwirkung durch uns als Lehrende, wie man sich eine Meinung bildet, wie man sich gegenseitig zuhört, wie man vor allem lernen kann, mit „anderem Denken“ umzugehen! Aber in diesem Spannungsfeld von persönlicher Freiheit und Verantwortung gegenüber staatlicher Willkür und Überregulierung erlebte ich bis auf wenige Ausnahmen Angst und Enge, Polarisierung und Denunziation.
Ist da wirklich kein Interesse?
Ein anderes Erleben war, dass die Kinder in der Schule immer weniger Interesse zeigten, ich meine wirkliches lebendiges Interesse an dem, was sie umgibt. Das System Schule gewöhnt es ihnen schlichtweg ab. Das Schulsystem fragt nicht: Wer bist du, was möchtest du und was ist der Plan, mit dem du auf diese Welt gekommen bist? Welche Hindernisse kann ich als deine Lehrerin, deine Wegbegleiterin ein Stück weit mit dir wegräumen?
Kinder, die ins System passen, haben nicht viel auszustehen und ihre Eltern auch nicht. Die glücklichen Eltern müssen sich aber genauso wenig auf die Schultern klopfen, weil sie es so gut gemacht haben, wie diejenigen sich nicht beschuldigen sollten, deren Kinder nicht in das System passen und es ungleich schwerer haben. Es gibt viele tolle Kollegen, die versuchen, Kraft ihrer Persönlichkeit dagegen anzukommen und etwas für ihre Schüler zu bewegen. Gefangen im System werden viele früher oder später wahrscheinlich ausbrennen.
Bin ich hier noch richtig?
Und zum Dritten bohrte die Frage in mir, ob ich für die Kinder dieser Zeit überhaupt die richtige Lehrerin bin? Zunehmend hatte ich das Gefühl, sie würden irgendetwas anderes brauchen. Ich verstand die Kinder immer weniger. Ich entstamme einer Lebenswirklichkeit ohne Digitalisierung; Mein eigenes Leben war noch aus ganz anderen Komponenten zusammengesetzt, die alle Sinne ansprachen und entwickelten. Ich hatte noch gelernt, mich über längere Zeit einer Sache zu widmen, an Dingen dranzubleiben, mich allein zu beschäftigen, Stille auszuhalten, die Natur zu lieben, einen Blick für das Kleine und Unscheinbare zu entwickeln, das Schöne zu empfinden, u.v.m. Ich konnte mich nur schwer in Kinder hineinversetzen, die schon in jungen Jahren in die virtuelle, schnelle, sensationsgeladene und reizüberflutete Welt der digitalen Medien eintauchten.
Ein Schnitt
Und irgendwann klopfte eine Frage zaghaft an meine innere Tür: Julia, und wenn du einfach aufhörst? Auf keinen Fall!!! brüllte ich zurück. Doch die Frage kehrte immer wieder und der Gedanke verlor langsam seinen Irrwitz. Sechs Wochen Sommerferien nutzte ich intensiv, um mir darüber klar zu werden, was eigentlich los war und irgendwie die Konsequenzen einer Kündigung zu überschauen, was mir nicht gelang. Es ging ja nicht nur um eine Kündigung, es ging darum, einen Lebensplan aufzugeben. Und dann war sie reif, die Entscheidung, die meinem Leben eine ganz neue Richtung gegeben hat. Ich blieb bis zum Schuljahresende in meiner 5. Klasse, bis ein neuer Kollege gefunden war, dem die Klasse anvertraut werden konnte.
Und was nun?
Nach diesem aktiven Schritt kam eine andere Phase. Ich hatte keine Vorstellung von dem, was ich stattdessen tun wollte. Aber ich wusste, dass ich es mir nicht erdenken konnte, denn dann würde ich es es längst wissen! Also wurde ich still und redete auch nicht darüber. Ich wollte es fühlen können. Mehrere Monate lang hatte ich keine Orientierung. Aber ich tat Dinge, die mich seelisch nährten.
Im Grunde beschäftigte ich mich mit dem, was mich in meinem Leben außerhalb von Schule interessiert hatte: Ich schaute mir meine Wohnzeitschriften wieder an, blätterte durch meine Handwerksbücher. Ich recherchierte stundenlang im Netz, wie man Keramikkacheln herstellt und durchstöberte Glasurkataloge. Es war jahrelang ein Traum von mir gewesen, in einem alten Haus zu leben und alle Fliesen und Kacheln darin selbst herzustellen und mit meinen Kindern zu gestalten.
Ich schaute auf YouTube Beiträge von Menschen, die sich und ihre Träume lebten, die ein selbstbestimmtes, individuelles Leben führten und tauchte in dieses Lebensgefühl tief, tief ein. Ich schaute mir Häuschen auf dem Land an… Kurz gesagt, ich versorgte mich mit inneren Bildern, während im Außen die absolute Ratlosigkeit herrschte.
Dann geschah es wirklich!
In meinem tiefsten Innern entstand der Wunsch, zu reisen und zwar in einem kleinen Bus, der mir Zuhause sein sollte. Die folgende Zeit, von Mitte Februar bis zum 1. September, dem Tag, an dem ich startete, war eine herausragende Zeit. Eine völlig neue Welt erschloss sich mir. Mein Vorhaben zu konkretisieren, zu überlegen und vorzubereiten – über allem lag ein Zauber, eine Verheißung, eine große freudige Erwartung. Der Plan war, allein unterwegs zu sein, elementar zu leben und einfach offen zu sein für das, was kommt.
Die Entscheidung, zu kündigen und (mehr oder weniger) geduldig auf einen echten Impuls zu warten, hat enorm viel bewirkt. Durch das Leben in meinem Bus war es möglich, wirklich herauszutreten aus allem, was sich über mich gestülpt hatte. Auf elementare Weise allein in der Natur mit sich selbst sein, zeigte mir diese Leichtigkeit, die das Leben haben kann.
Durch den Schnitt kam ich erstmalig mit bestimmten Erkenntnissen in Berührung, wie beispielweise der, dass sich in unserem Leben genau das zeigt, was wir über uns denken. Oder dass unsere Gedanken unsere Gefühle beeinflussen, die ja über die Qualität unseres Lebens bestimmen. Irgendwie ist unsere Welt gerade voll von diesen Themen. Doch reicht es nicht, sie zu kennen. Denn bestimmte Dinge zu wissen, ändert gar nichts. Das, was ich mir sage, muss ich auch GLAUBEN können.
Ich muss zunächst herausfinden: Was bedeutet diese Erkenntnis für mich? Erst, wenn ich versuche umzusetzen, dass positive Gefühle das Leben leichter, bunter und produktiver machen, erlebe ich, wie stark ich meinem über Jahrzehnte eingespurten Denken verhaftet bin. – Dann beginnt die Arbeit zwischen den Polen: Wer bin ich, was darf ich annehmen und was gilt es zu entwickeln? Da gibt es eine Frage, die gut ausdrückt, worum es geht: „Wie kann ich werden, die ich bin?“
Und heute?
Im Juli ist dieser Schnitt 3 Jahre her. Die Entscheidung, aufzuhören, war ein „folgerichtiges“ Resultat der Vergangenheit. Es gibt jetzt diese zwei Leben, das davor und danach. Die Entscheidungen, die ich anschließend getroffen habe, machen mich vollständiger, weil ich durch sie neue Facetten entwickle. Die Dinge, die daraus entstanden, finden sich hier auf diesem Blog. Wenn du dazu mehr lesen möchtest, klicke auf die Bilder, sie sind mit weiteren Beiträgen verlinkt.
Und wie fühlt sich das Ganze an? Mitunter ist es sehr herausfordern und beängstigend, gleichzeitig aber sehr erfüllend, weil so viel Andersartiges in mein Leben kommt. Was ich tue, dient dem Ziel, immer wieder an dieses bestimmte Lebensgefühl anknüpfen zu können. Und dabei ich erlebe ganz klar: Der Weg ist das Ziel!






Liebe Julia,
was für ein mitreißender Bericht! Ich habe richtig mitgefühlt und mitgefiebert. Ja, diese Erkenntnis, dass das Leben sich uns so zeigt, wie wir über uns in der Welt denken, ist so tiefgreifend, wenn wir sie nicht nur kognitiv verstehen, sondern in unserem Dasein wirklich erfahren.
Ich bin sehr gespannt auf deinen weiteren Weg!
Von Herzen
Pia
Danke, liebe Pia, dass du den Beitrag gelesen hast!
Julia
Liebe Julia
sehr mutig dein Schritt zu einem ganz neuen Leben! Unsere Kinder waren auch an einer Waldorfschule und wir waren erleichtert, dass sie zu dieser schwierigen Zeit bereits die Schule beendet hatten. Das war sicher eine Zerreißprobe. Schön, dass du dich in der Natur so finden konntest und kannst. Ist doch großartig, wie du auf deine Intuition vertraut hast und für dich und deine Wahrnehmung eingestanden bist. Weiterhin viel Mut, Leichtigkeit und vorallem Freude! Marianne
Vielen Dank, liebe Marianne, für deine Rückmeldung! Es ist schön, dass deine Kinder die Waldorfschule erfahren durften, ich hoffe, es war eine gute 🙂
Liebe Grüße, Julia
Liebe Julia,
Dankeschön für diesen ehrlichen und mitreißenden Artikel. Er macht Mut, nie aufzuhören, auch alte, bewährte Lebenskonzepte zu hinterfragen. Alles Gute auf Deinem weiteren Weg, den ich jetzt lesend gerne mitverfolge💗.
Alles Liebe
Susanne
Liebe Susanne, danke für deinen Kommentar!
PS: Wenn du wüsstest, was mir die „Blaue Stunde“ während meiner Reisen war!
Liebe Julia,
was für eine Entscheidung und was für ein Schritt! Aber wenn etwas dran ist, ist es eben dran.
Und was für ein wunderbarer Satz: „Ich wusste, dass ich das nicht erdenken konnte“ und was für ein Geschenk, dass du dir Zeit genommen hast. Wer feststeckt in seinem Leben, sollte deine Geschichte kennen.
Herzlichen Dank dafür!
Liebe Julia,
deine Geschichte ist sehr berührend und innerlich weitend. Es gehört viel Courage dazu, einen „Lebensplan“ zu hinterfragen, tatsächlich aufzugeben und auch die Leere danach erstmal so zu halten, wie du es getan hast – dem Entstehen vertrauend.
Solche Geschichten sind unglaublich wertvoll – gerade in Zeiten, in denen wir einzeln und kollektiv versucht sind, in bestimmte Blasen, Kollektive oder digitalen Welten zu rutschen. Doch es geht um Lebendigkeit und Authentizität – und daran er-innert diese Geschichte deine großen Entscheidung eindringlich.
Herzlichen Dank fürs Teilen und weiter alles Gute auf deinem Weg!
Vielen Dank, liebe Cornelia, für deine Worte und herzliche Grüße! Julia
Liebe Julia
Du webst deine persönliche Geschichte mit grösserem Zeitgeschehen, der Pandemie, ohne ins Allgemeine abzurutschen. Die Zäsur, die du beschreibst, ist fühlbar. Nicht als dramatischer Knall, sondern als inneres Abwägen, ein langsames Hinsehen. Der rote Faden ist klar: Es ist der Weg von Zugehörigkeit hin zu einer bewussten Trennung. Nicht aus Trotz, sondern aus Wahrhaftigkeit. Und das trägt deinen Text.
Deine Sprache ist nah, nicht geschönt, aber auch nicht grob. Sie lädt ein, zuzuhören. Und man spürt: Hier spricht jemand, der wirklich erlebt hat, was sie erzählt.
Vielen Dank, liebe Gabriella, für deinen Kommentar. Es freut mich, dass es so rüberkommt. Liebe Grüße! Julia